ER

Ich hatte ihn nicht eingeladen. Doch vor 15 Jahren war er plötzlich da. Unerwartet, und unverhofft: Zwar hatte ich schon viel von ihm gehört, aber persönlich kennenlernen wollte ich ihn eigentlich gar nicht. Und doch, gleich bei unserer ersten Begegnung mit ihm war ich wie vom Blitz getroffen!

Sofort bestimmte er mein Leben. Er verfolgte mich auf Schritt und Tritt, verschaffte sich rücksichtslos Platz und Einfluss in meinem Alltag, nahm mir meine Freiheit.

Meine Freunde und Familie waren natürlich sehr besorgt. Doch helfen, konnten Sie mir nicht. Auch der Gang zum Therapeuten – wirkungslos. Statt endlich wieder zu gehen, zog er bei mir ein. Er hatte sich fürs Zusammensein mit mir entschieden – und er ist geblieben!

Dabei weiß ich gar nicht, was er an mir findet – doch scheint er an mir einen Narren gefressen haben! Er spielt mit mir, diktiert die Regeln, bestimmt das Geschehen, zeigt mir immer wieder meine Grenzen auf. Jeden Tag bedrängt er, beengt er, beschränkt er mich.

Dann plötzlich, verschwindet er aus meinem Leben. Tage und Wochen vergehen, doch er bleibt weg, meldet sich nicht mehr.

Ich fühle mich wie neu geboren, kann aufatmen und schöpfe Hoffnung, seiner Tyrannei endlich entkommen zu sein.

Doch die Erleichterung währt nur kurz: Denn so überraschend, wie er verschwunden war, kehrt er wieder zu mir zurück. In meinem eigenen Zuhause überfällt er mich aus dem Hinterhalt, erschüttert mich bis ins Innerste. Wieder kann ich ihm nicht entkommen, sofort hat er mich zurückerobert. Immer fester hält er mich fest im Griff, immer mehr isoliert er mich von den anderen, macht mich einsam und verzweifelt.

Er nebelt mich ein, er lässt mich erstarren und er zittern; er bedroht und quält mich, raubt mir fast den Verstand, erschöpft mich, macht mich stumm und bringt mich zum Weinen. Er frisst mich auf – ich bin seine Gefangene. Er beansprucht mich nun ganz für sich, duldet nichts und niemand neben sich, wird zum alleinigen Herrscher!

Nein, ich habe ihn nie auserwählt, mich nie für ihn entschieden, ihn nie vermisst. Ganz im Gegenteil: Ich kann ihn nicht leiden, seine Präsenz kaum ertragen: Ich hasse ihn und seine Grausamkeit! Immer wieder suche ich deshalb einen Weg, der es mir endlich ermöglicht, mich von ihm trennen, ihn aus meinem Dasein zu verbannen, ihn loszuwerden - für immer!

Das stört Ihn freilich nicht; er sucht weiter meine Nähe mit penetranter Beharrlichkeit; Er will dass ich nicht dauernd mit ihm hadere, sondern JA zu ihm sage, akzeptiere, dass er Bestandteil meines Lebens ist!!!

Er, der Schmerz!


(Susanne Rafael, im Oktober 2018)

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